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Das Nordische Modell

Autorinnen: Marie Kaltenbach und Käthe Hientz, SISTERS Ortsgruppe Tübingen-Reutlingen

Das Nordische Modell ist ein Paket aus verschiedenen Maßnahmen zum Schutz prostituierter Menschen und zur Reduzierung der Nachfrage nach Prostitution. Das Maßnahmenpaket wird als Nordisches Modell bezeichnet, weil Länder aus dem Norden Europas dieses Modell als erste etabliert haben. Schweden machte 1999 den Anfang. Es folgten Norwegen und Island 2009. Da mittlerweile auch andere Länder, wie z.B. Frankreich, Israel, Kanada oder Irland das Modell umsetzen, ist international meist vom Equality Model oder Abolitionist Model die Rede. Wie das Modell genau umgesetzt wird, ist von Land zu Land unterschiedlich, doch die Grundidee ist überall dieselbe:

Prostitution wird als eine Form von geschlechtsspezifischer Gewalt aufgefasst, die der Gleichstellung der Geschlechter im Wege steht und der Gesellschaft insgesamt schadet. Das Nordische Modell umfasst verschiedene Säulen, die den Schutz und die Unterstützung für prostituierte Menschen verbessern, die Nachfrage nach Prostitution reduzieren und den Menschenhandel bekämpfen sollen sowie langfristig auf eine Gesellschaft ohne Prostitution zielen.

 

Um den Sinn und Zweck hinter den einzelnen Säulen zu verstehen, müssen wir ein wenig ausholen und uns zunächst die Situation prostituierter Menschen und ihre Lebensrealitäten bewusst machen.

 

Frauen in der Prostitution

Weltweit sind es vor allem Frauen, die in der Prostitution sind. In Deutschland wird der Anteil von Frauen in der Prostitution auf 90% und höher geschätzt. Die Nachfrage nach Prostitution geht fast ausschließlich von Männern aus – auch die Nachfrage nach prostituierten Männern und trans-Personen. Doch nicht nur in Bezug auf das Geschlecht zeigen sich große Ungleichheiten. Weltweit sind vor allem Menschen aus marginalisierten Gruppen in der Prostitution zu finden. Angehörige ethnischer Minderheiten sind im Vergleich zu ihrem Gesamtbevölkerungsanteil in der Prostitution überrepräsentiert. Diskriminierung und Ausgrenzung führen dazu, dass Angehörigen dieser Gruppen der Zugang zu Bildung oder zum Arbeitsmarkt verwehrt wird und die Prostitution oft die einzige Möglichkeit bleibt, um zu überleben. Der illegale Aufenthalt in einem Land, z.B. während der Flucht, macht Frauen vulnerabel, wodurch sie durch Dritte zur Prostitution gezwungen werden. Doch auch Armut ist ein Faktor, der Menschen in die Prostitution bringt. Frauen sind in Deutschland und global stärker von Armut gefährdet. Sei es, weil sie alleinerziehend sind oder sei es, weil sie nie eine Schule besuchen durften. Viele der prostituierten Frauen in Deutschland stammen aus armen Regionen in Südosteuropa. Ihre Not ist groß und die falschen Versprechen auf Wohlstand durch eine Tätigkeit im Ausland macht es Tätern leicht, die Frauen in die Prostitution zu bringen. Wohnungslosigkeit und Drogenabhängigkeit machen Menschen ebenso verletzlich und die Prostitution ist dann meist der letzte Weg an einen Schlafplatz oder Geld für Drogen zu kommen. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die meisten Frauen häusliche Gewalt und/oder sexuelle Gewalt erfahren haben, bevor sie in die Prostitution kamen.

Die meisten Frauen in der Prostitution sind fremdbestimmt, sei es durch äußere Zwänge oder den direkten Zwang durch andere Personen. Sogenannte Loverboys täuschen Frauen Liebe vor, um sie in eine emotionale Abhängigkeit zu bringen und dann in der Prostitution auszubeuten. Ein Phänomen, das Frauen aus dem Ausland, aber auch deutsche Staatsangehörige zunehmend betrifft.

Nimmt man all diese Faktoren zusammen, kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen der Prostitution nicht nachgehen, weil sie es wollen, sondern weil ihnen keine andere Möglichkeit bleibt, um zu überleben. Menschenhändler und Zuhälter machen sich diese Notlage zunutze und beuten die Frauen aus. Von selbstbestimmten, freiwilligen Prostituierten kann in der Regel also nicht ausgegangen werden. Gewalt, Zwang und Ausbeutung gehören zum Alltag prostituierter Frauen.

Das Nordische Modell berücksichtigt diese Bedingungen sowie die Lebenssituation der Frauen und richtet das politische Handeln danach aus.

 

Säule 1 – Entkriminalisierung Prostituierter

Das Nordische Modell erkennt die Notsituation der prostituierten Frauen an. Statt ihnen Auflagen und Pflichten aufzuerlegen, bei deren Nichteinhaltung sich die Frauen strafbar machen, soll mit der Entkriminalisierung verhindert werden, dass die Frauen durch den Staat für etwas kriminalisiert werden, was sie eigentlich gar nicht tun wollen. Es gilt so auch eine Reviktimisierung zu vermeiden.

 

 

Säule 2 – Hilfe- und Unterstützungsprogramme

Prostituierten Frauen Alternativen zur Prostitution zu eröffnen, ist ein integraler Bestandteil des Nordischen Modells. Die Säule der Hilfe und Unterstützung umfasst Ausstiegs- und Rehabilitationsprogramme. Wichtig ist, dass den Frauen zunächst der Druck genommen wird, Geld verdienen zu müssen. Neben der finanziellen Unterstützung beinhalten die Programme daher auch eine Unterkunft oder die Unterbringung in einem Schutzhaus. Außerdem sind die gesundheitliche Versorgung, psychologische Unterstützung, wie etwa Traumatherapie, Aus- und Fortbildungsangebote, Perspektivenentwicklung und Beratung Teil der Programme. Ein Ausstieg aus der Prostitution braucht häufig mehrere Anläufe. Die Hilfe- und Unterstützungsangebote sind aber immer für die Frauen verfügbar, egal wie oft sie diese in Anspruch nehmen. In Ländern mit dem Nordischen Modell hat sich die Befürchtung, dass die Soziale Arbeit die Frauen nicht mehr erreichen kann, wenn der Sexkauf verboten ist, nicht bestätigt. Denn wenn die Freier die Frauen finden, dann können das die SozialarbeiterInnen auch. Und natürlich stehen die Unterstützungsangebote allen prostituierten Frauen offen, nicht nur denen, die aussteigen möchten.

 

Säule 3- Sexkaufverbot

Dass es Prostitution gibt und beständig neue Frauen in die Prostitution gebracht werden, beruht auf der simplen Tatsache, dass es eine Nachfrage hierfür gibt. In Deutschland bezahlen rund 1,2 Millionen Männer pro Tag für Prostitution. Deutschland ist zu einem Hauptzielland für Sextouristen geworden. Das heißt, Prostitution ist – gerade in Deutschland – ein riesiger Markt auf dem Zuhälter und Menschenhändler durch die Ausbeutung von Frauen Milliarden verdienen. Der Jahresumsatz des Prostitutionsmarkts in Deutschland wird auf 14,6 Milliarden geschätzt. Die hohe Nachfrage trifft auf der Gegenseite jedoch nicht auf ein entsprechendes „Angebot“. Das „Angebot“ kann folglich nur durch Menschenhandel und Zwang hergestellt werden. Die Nachfrage nach Prostitution und das Verhalten der Freier hängt deshalb unmittelbar mit dem Menschenhandel zusammen. Nur wenn die Nachfrage nachhaltig reduziert wird, wird der Prostitutionsmarkt schrumpfen und für Kriminelle nicht mehr so lukrativ sein. Dies ist ein Grund, warum das Nordische Modell die Säule eines Sexkaufverbots enthält. Freier riskieren Geldstrafen, aber vor allem ihr Ansehen. In Ländern mit dem Nordischen Modell konnte die Nachfrage und damit auch der Menschenhandel deutlich reduziert werden, was bedeutet, dass weniger Frauen in der Prostitution ausgebeutet werden. Es gibt aber noch weitere Gründe für die Freierstrafbarkeit: Freier bezahlen für sexuelle Handlungen, die ohne einen Geldtransfer nicht zustande kommen würden. Der Konsens wird somit erkauft. Prostituierte Frauen erleben diese sexuellen Handlungen ohne echten Konsens wie eine bezahlte Vergewaltigung. Freier tun den Frauen also unmittelbar Gewalt an. Solange eine Gesellschaft akzeptiert, dass Männer sich den Zugang zu Frauenkörpern kaufen können, kann die Gleichstellung nicht gelingen.

 

Säule 4 – Verbot des Profitierens aus der Prostitution anderer

Wie im Zusammenhang mit der Freierstrafbarkeit schon erwähnt wurde, ist der Prostitutionsmarkt für Kriminelle äußerst lukrativ. Die Verfolgung der Täter gestaltet sich in diesem Deliktbereich aber grundsätzlich schwierig, weil es immer die Aussage eines Opfers braucht, um einen Prozess führen zu können. Die Opfer fürchten jedoch (zu Recht), dass die Tätergruppierungen ihnen oder ihrer Familie etwas antun, wenn sie vor Gericht aussagen. Die Verurteilungsquoten sind folglich gering und die Täter gehen nur ein sehr geringes Risiko ein, für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Darüber hinaus ist in Ländern wie Deutschland, die den Prostitutionsmarkt legalisiert haben, das Profitieren aus der Prostitution anderer nicht grundsätzlich strafbar. Bordellbetreiber oder Zuhälter dürfen Frauen Geld abnehmen, solange es nicht ausbeuterisch ist. Die Ausbeutung nachträglich nachzuweisen, ist gerichtlich aber kaum möglich. In Ländern mit dem Nordischen Modell ist deshalb jegliches Profitieren aus der Prostitution einer anderen Person verboten. Das erleichtert die Strafverfolgung.

 

Säule 5 – Aufklärung und Prävention

Ein letzter wichtiger Baustein ist die Säule der Prävention. Es gilt betroffene Gruppen, wie bspw. Mädchen und junge Frauen, über die Loverboy-Masche zu informieren. Die Aufklärung soll jedoch in die ganze Gesellschaft hineinwirken und die schädlichen Folgen der Prostitution für die betroffenen Frauen sowie für die Gesamtgesellschaft benennen. In den Ländern, die heute bereits das Nordische Modell umsetzen, war die Bevölkerung vor dessen Einführung mehrheitlich dagegen. Schon wenige Jahre nach der Einführung drehte sich das Verhältnis aber um und die meisten Menschen befürworten das Gesetz heute. Die gesellschaftliche Ablehnung des Systems Prostitution ist Teil einer ganzheitlichen Gleichstellungsstrategie.

 

Mit dem Nordischen Modell sollen also nicht nur der Schutz und die Unterstützungssysteme für prostituierte Frauen verbessert werden, sondern es geht um eine gesellschaftliche Kernfrage: Soll Männern weiterhin das Recht zugestanden werden, die Notlage und Benachteiligung von Frauen für ihre persönliche sexuelle Befriedigung ausnutzen zu dürfen oder wollen wir eine gleichberechtigte Gesellschaft, in der benachteiligte Gruppen unterstützt und integriert werden?

Das Nordische Modell entscheidet sich für letzteres.

 

Zum Weiterlesen:

Huschke Mau: Entmenschlich. Warum wir Prostitution abschaffen müssen. Edel.

Héma Sibi: Last Girl First! Prostitution at the intersection of sex, race and class-based oppressions.

Melissa Farley et al.: Männer in Deutschland, die für Sex zahlen – und was sie uns über das Versagen der legalen Prostitution beibringen. Ein Bericht über das Sexgewerbe in 6 Ländern aus der Perspektive der gesellschaftlich unsichtbaren Freier. Download hier.

Manuela Schon: AUSVERKAUFT! Prostitution im Spiegel von Wissenschaft und Politik. Tredition.

Julia Wege: Biografische Verläufe von Frauen in der Prostitution: Eine biografische und ethnografische Studie. Springe Fachmedien.

Andrea di Nicola: The differing EU Member States’ regulations on prostitution and their cross-border implications on women’s rights. Download hier.

European Women’s Lobby: 18 Myth on Prostitution. Download hier.