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„Prostitution und Marginalisierung“ – von Marie Kaltenbach

Wie die Pro-Prostitutionslobby die Marginalisierten für sich entdeckt und für ihre Ziele benutzt – ein Artikel von SISTERS-Mitfrau Marie Kaltenbach

 Anfang September 2021 wird in Stuttgart eine Konferenz des Bundesverbandes für erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) in Zusammenarbeit mit der Aidshilfe Stuttgart unter dem Motto ‚Aufklären statt Ausgrenzen‘ stattfinden. Neben den üblichen Klagen über die Stigmatisierung und den falschen Behauptungen über die Unwirksamkeit des Nordischen Modells, wird es bei der Konferenz auch um marginalisierte Personen in der ‚Sexarbeit‘ gehen.

Die Organisator:innen wollen ein besonderes Augenmerk darauf legen, auch jene Menschen aus der Sexarbeit zu integrieren, die in Verbandskreisen oder der politischen Arbeit oft nicht gehört werden, heißt es in der Ankündigung zur Konferenz[i]. Dass die Pro-Prostitutionslobby nun endlich darauf aufmerksam wird, dass sich insbesondere vulnerable Personen in der Prostitution befinden, mag zunächst nach einem Erkenntnisfortschritt klingen. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Fokus auf die Marginalisierten in der Prostitution als Strategie der Pro-Prostitutionslobby, mit der das Märchen von der sauberen ‚Sexarbeit‘ weitererzählt werden soll.

Von Missständen in der Prostitution und Märchen

Dass selbst die Gutgläubigsten das Märchen von der freien, selbstbestimmten ‚Sexarbeit‘ nicht mehr so recht glauben wollen, setzt die Pro-Prostitutionslobby offenbar unter Druck. Mit der Pandemie wurden die Missstände in der Prostitution endgültig für alle sichtbar. Die Pro-Prostitutionslobby kann nun also nicht mehr leugnen, dass der Sexmarkt in Deutschland vor allem von vulnerablen Menschen bedient wird – zum größten Teil Frauen –, die sich in Not, Abhängigkeit und schwierigen Lebenssituationen befinden. Doch anstatt diese Tatsache als das zu benennen, was sie ist – ein Skandal und Armutszeugnis für jede Gesellschaft – benutzt die Pro-Prostitutionslobby diese vulnerablen Menschen erneut, um von den eklatanten Missständen in der Prostitution abzulenken und sich gleichzeitig als Interessenvertretung dieser Menschen zu präsentieren. Besonders deutlich wurden die Absichten der Pro-Prostitutionslobby während des Corona-Lockdowns: Die Interessenverbände forderten, die Prostitutionsstätten schnellstmöglich wieder komplett zu öffnen – angeblich vorrangig zum Wohle der Betroffenen, wie beispielsweise Doña Carmen in einer Pressemitteilung verlauten ließ[ii]. Und auch Bordellbetreibende inszenierten sich als Wohltäter, die obdachlos gewordene Frauen in ihren Bordellen übernachten ließen[iii]. Der begleitende Tenor war:  Nur ein geöffneter Prostitutionsmarkt kann die existentielle Not der Betroffenen lindern. Dies alles sah vordergründig nach Solidarität aus, muss aber wohl als Versuch gewertet werden, die milliardenschwere Sexindustrie schnellstmöglich wieder in den Normalbetrieb mit klingelnden Kassen zu versetzen. Die Infektionsrisiken für die prostituierten Frauen, von denen die wenigsten über eine Krankenversicherung verfügen und die meisten unter gesundheitlichen Problemen leiden, wurden mit dem Verweis auf ein Hygienekonzept vom Tisch gewischt.

Als würde die Pro-Prostitutionslobby nicht schon genug Profit aus der Not der Vulnerabelsten schlagen, beutet die Lobby diese Menschen nun ein weiteres Mal aus, indem sie die Betroffenen während des Ausnahmezustandes einer Pandemie für die eigene Imageverbesserung benutzt.

Diese Instrumentalisierung Marginalisierter durch die Pro-Prostitutionslobby existiert jedoch nicht erst seit der Pandemie. So schreibt der BesD, der sich für die Abschaffung des Prostituiertenschutzgesetzes ausspricht, beispielsweise auf seiner Homepage:

„Die Auseinandersetzung mit Stigmatisierung und Marginalisierung, die sich unter anderem besonders heftig in gesellschaftlicher Ausgrenzung von Sexarbeiter:innen und in sexarbeitsfeindlichen Gesetzen wie dem ProstituiertenSchutzGesetz zeigen, ist für uns als Berufsverband seit unserer Gründung ein Schlüsselthema.“[iv] Und auch die Beratungsstelle Hydra betonte in einem Redebeitrag zum 8. März 2021, für die Rechte Marginalisierter einzustehen und „für eine Welt ohne Doppelmoral, Paternalismus, Sexismus, Rassismus, Ableismus, Klassismus und menschenunwürdige Verhältnisse [zu] kämpfen[v], um dann im nächsten Abschnitt zu behaupten, dass das Prostituiertenschutzgesetz den Betroffenen durchweg schade.

Vorzugeben, sich für marginalisierte Menschen in der Prostitution einzusetzen, um dann im gleichen Atemzug die Abschaffung aller Gesetze zu fordern, die den Schutz vulnerabler Personen zum Ziel haben, ist an Doppelmoral eigentlich nicht zu übertreffen. Auch wenn die Pro-Prostitutionslobby versucht, mit diesem scheinheiligen Engagement ökonomische Interessen zu verdecken, bleibt unübersehbar, dass die Lobby einen großen Anteil an den Missständen zu verantworten hat. Die andauernde Forderung nach noch liberaleren Gesetzen und die Normalisierung der Prostitution als ‚Beruf wie jeder andere‘ nutzt einzig und allein den Bordellbetreibenden, die ihre Zimmer weiterhin für horrende Preise vermieten, den Menschenhändlern, die vom expandierenden Sexmarkt profitieren und nicht zuletzt den Freiern, die sich im Fahrwasser der Legalität den Zugang zu Frauenkörpern problemlos verschaffen können.

Prostitution und Gewalt

Die Sexindustrie lebt davon, dass Menschen in Situationen geraten, die sie in die Prostitution treiben. Die Prostitution ist meist das letzte Glied in einer ganzen Kette aus Gewalterfahrungen, Diskriminierung, Perspektivlosigkeit, finanzieller Notlage und Stigmatisierung. Die Prostitution ist dabei nie der Ausweg aus diesen schwierigen Situationen, sondern verschärft diese vielmehr. Arme Frauen werden in der Prostitution nicht reich; verletzte und traumatisierte Frauen nicht gesund und Diskriminierte nicht weniger ausgegrenzt. Stattdessen zerstört Prostitution Leben, und Betroffene leiden auch nach dem Ausstieg oft lange an den Folgen der erfahrenen Gewalt. Abolitionist:innen und Überlebende machen immer wieder darauf aufmerksam, dass sich in der Prostitution vor allem Frauen und Angehörige marginalisierter Geschlechter befinden, dass indigene Frauen und Roma-Frauen (Romnja) im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil übermäßig in der Prostitution vertreten sind[vi], dass prostituierte Frauen in ihrem Leben überdurchschnittlich häufig von Gewalt betroffen waren und sind[vii] und dass seit dem Jahr 2000 über 100 Frauen in der Prostitution ermordet wurden[viii]. Dass trotz dieser Tatsachen vulnerable Menschen in Deutschland legal in der Prostitution ausgebeutet, sexualisiert, rassifiziert und verletzt werden können, ist nicht nur verantwortungslos, sondern verstößt gegen die Würde eines jeden Menschen.

Politische Entwicklungen wie restriktive Migrationsregime, Frauenarmut oder der Abbau des Sozialstaates machen Menschen zusätzlich vulnerabel und machtlos. Zu diesem Schluss kommt auch die Wissenschaftlerin Jenny Künkel[ix], die als Vortragende zur Sexarbeitskonferenz in Stuttgart eingeladen ist. Doch anstatt die Kritik zu Ende zu denken und die Prostitution in die Liste gesellschaftlicher Missstände einzureihen, folgert Künkel, dass es vor allem die mangelnde Integration der Prostitution in den regulären Arbeitsmarkt sei, die zu den Missständen in der ‚Branche‘ führe. Denn nur dort könne die vollumfängliche Anwendung des Arbeitsrechts garantiert werden[x].  Ist sie erst einmal als ‚Beruf‘ definiert, mag Prostitution vielleicht auch als flexible Jobalternative oder gar als gute Einkommensquelle für Migrantinnen erscheinen.  In dieser Denkart wird Prostitution schließlich zur Lösung gesellschaftlicher Ungleichheiten und individueller Notsituationen. Die der Prostitution innewohnenden Gewaltverhältnisse werden hingegen in andere Bereiche verlagert. Die physische und psychische Gewalt, die in der Prostitution durch Zuhälter und Menschenhändler stattfindet, die finanzielle Ausbeutung durch Bordellbetreibende und die Erniedrigungen, brutale Behandlung und Morde durch die Freier bleiben somit unerwähnt. Auf diese Weise kann das Märchen von der sauberen Sexarbeit weitergesponnen werden.

Zwei-Klassen-Denken statt Solidarität

Die Erzählung der sauberen Sexarbeit schützt nicht die Betroffenen, sondern die Täter und jene, die mit Ausbeutung ihr Geld verdienen. Und tragischerweise trägt dieses Narrativ auch dazu bei, dass sexistische, rassistische und klassistische Diskriminierungsformen zementiert werden, weil ihm ein Zwei-Klassen-Menschenbild zugrunde liegt. Prostitution stellt darin einen zumutbaren Weg für Marginalisierte dar, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Diese Betrachtungsweise der Prostitution gleicht eher einer Kapitulation vor ungerechten Verhältnissen, als einem gesellschaftlichen Veränderungswillen.

Den Betroffenen nützt eine so gepolte Lobby nicht. Die Betroffenen brauchen vielmehr Unterstützungsangebote, die ihren Bedürfnissen gerecht werden und Perspektiven bieten für ein Leben außerhalb der Prostitution, für ein menschenwürdiges Leben. Und eine Gesellschaft, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt, braucht das Nordische Modell. Das Nordische Modell zu fordern heißt, solidarisch mit den Marginalisierten und Vulnerablen zu sein, weil es Prostitution als das ansieht, was es ist: Ein Gewaltverhältnis, welches mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden muss, weil es jeglicher Legitimität entbehrt.

 

Mehr Infos zum Nordischen Modell:

Was ist das Nordische Modell?

https://sisters-ev.de/2020/04/25/faktencheck-zu-prostitution-und-zum-nordischen-modell-von-sisters-e-v/

https://www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/frauenhandel/nordisches-modell

Übersicht zu Studien zum Nordischen Modell:

https://sisters-ev.de/2021/02/22/studienuebersicht-zu-den-effekten-des-nordischen-modells/

Frauen aus der Prostitution über das Nordische Modell:

https://huschkemau.de/2019/10/15/legalisierung-prostitutionsverbot-entkriminalisierung-nordisches-modell-wie-gesetzgeberisch-umgehen-mit-prostitution/

 

[i] https://sexarbeitskonferenz.de/ [21.07.2021]

[ii] https://www.donacarmen.de/pressemitteilung-9/#more-2569 [26.07.21]

[iii] https://taz.de/Corona-und-Prostitution/!5671919/ [26.07.21]

[iv] https://www.berufsverband-sexarbeit.de/index.php/2021/04/21/antworten-zu-diskriminierungsvorwuerfen-gegen-den-besd/ [21.07.2021]

[v] https://www.hydra-berlin.de/feministischer-kampftag/redebeitrag-8-maerz-2021 [21.07.2021]

[vi] Schon, Manuela, 2021: Ausverkauft! Prostitution im Spiegel von Wissenschaft und Politik. S. 164 ff.

[vii] Müller, Ursula & Schöttle, Monika, 2004: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland: Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des BMFSFJ. S. 490 ff.

[viii] https://www.sexindustry-kills.de/doku.php?id=prostitutionmurders:de [26.07.21]

[ix] Künkel, Jenny, 2020: Feministische Perspektiven auf Sexarbeit als Care-Arbeit.  https://care-revolution.org/aktuelles/feministische-perspektiven-auf-sexarbeit-als-care-arbeit/ [04.08.2021]

[x] Künkel, Jenny, 2020: Sexarbeit in Zeiten von COVID-19 – zwischen Verbot und Kampf gegen Marginalisierung.  https://www.zeitschrift-luxemburg.de/sexarbeit-in-zeiten-von-covid-19/ [24.07.21]