Die Organisation CAP International hat einen zusammenfassenden Bericht zur Evaluation des französischen Gesetzes herausgebracht. Die deutsche Übersetzung veröffentlichen wir hier:
Am 22. Juni 2020 wurde ein interministerieller Bewertungsbericht des französischen Gesetzes vom 13. April 2016 zur Stärkung des Kampfes gegen das Prostitutionssystem und zur Unterstützung prostituierter Personen veröffentlicht(1). Dieser Bericht wurde von drei unabhängigen Aufsichtsbehörden gemeinsam unterzeichnet: der Generalinspektion für soziale Angelegenheiten, der Generalinspektion für Verwaltung und der Generalinspektion für Justiz.
Das 238 Seiten umfassende Dokument ist das Ergebnis einer neunmonatigen Untersuchung, basierend auf 300 Interviews und der Auswertung von Fragebögen, die an Präfekte [oberste Verwaltungsbeamte eines Départements], Staatsanwälte und regionale Gesundheitsbehörden geschickt worden waren. Es enhält 28 Empfehlungen an den Staat, welche die Analysen und Vorschläge von Basis-NGOs wie „Mouvement du Nid“ und „Fondation Scelles“ bestätigen, die mit Prostituierten in Frankreich zusammenarbeiten.
ALLGEMEINE ÜBERLEGUNGEN
- 40.000 prostituierte Personen in Frankreich, zumeist Ausländerinnen, und eine Zunahme von Prostitution Minderjähriger
Der Bericht gibt an, dass es 2015 laut der [inoffiziellen, von „Mouvement du Nid“ und dem gemeinnützigen Unternehmen „Psytel“ angefertigten] ProstCost-Studie(2) in Frankreich schätzungsweise 37.000 prostituierte Personen gab, davon 85% Frauen, 10% Männer und 5% Transsexuelle. Gemäß den Befragungen der Evaluierung wären es heute 40.000.
Der Bericht führt weiter aus, nach den durchschnittlichen Zahlen von 5 regionalen Gesundheitsbehörden mit Statistiken über 9363 Menschen seien „85% der prostituierten Personen Frauen und 85% ausländischer Herkunft„. Er bestätigt, dass die Prostitution in Frankreich hauptsächlich in Netzwerken organisiert ist, die ihre eigenen Landsleute ausbeuten (hauptsächlich Nigerianer, Rumänen, Bulgaren und Ungarn sowie Südamerikaner und Chinesen).
Und schließlich belegt er „eine besorgniserregende Zunahme der Prostitution von Minderjährigen mit meist französischer Staatsbürgerschaft, „de cité“ (aus den Vororten) genannt, unbegleiteten Minderjährigen oder jungen Erwachsenen, die oft aus dem Kinderschutzsystem fallen„.
- Ein Wechsel von der Straßenprostitution zur Online-Prostitution – vor Inkrafttreten des Gesetzes und seitdem bestätigt
Die Evaluierung zeigt, dass die Straßenprostitution in den letzten drei Jahren von 54% im Jahr 2016 auf 34% im Jahr 2018 zurückgegangen ist, während die Online-Prostitution einen Anstieg von 25% verzeichnet. Die meisten Kontakte zwischen Sexkäufern und prostituierten Frauen finden jetzt über das Internet statt. Dennoch sei es unmöglich zu beurteilen, inwieweit dieser Wechsel auf die Gesetzesänderung und/oder einen strukturellen Wandel zurückzuführen ist, wie auf Seite 5 des Berichts erläutert wird: „In Ermangelung verlässlicher statistischer Daten vor der Verabschiedung des Gesetzes sowie von Instrumenten zur Bewertung des Phänomens nach der Verabschiedung des Gesetzes ist es jedoch unmöglich zu beurteilen, welcher Anteil dieser Entwicklungen auf die Gesetzesänderungen zurückzuführen ist und welcher auf strukturelle Tendenzen.“ Tatsächlich scheint dies hauptsächlich auf die Entwicklung des Internets zurückzuführen zu sein, wie die Studie von ProstCost(2) bestätigt: Im Mai 2015, ein Jahr vor dem Gesetz, fanden bereits 62% der Prostitution online statt, verglichen mit 30% auf der Straße und 8% im Innenbereich.
ZAHLEN ZUR UMSETZUNG DES GESETZES
- Nach Verabschiedung des Gesetzes keine wegen des Tatbestandes der Anwerbung verurteilten Prostituierten mehr
Nach dem 13. April 2016 wurden keine prostituierten Personen mehr wegen des Tatbestands der Anwerbung festgenommen, welcher durch das Gesetz aufgehoben worden war (im Vergleich dazu waren es vor der Verabschiedung des Gesetzes durchschnittlich 1.000 pro Jahr). Der Bericht unterstreicht die gute Anpassung der Polizeibeamten an diese Strafbarkeitsumkehr und die neue Berücksichtigung von Prostituierten als Opfer nach dem Gesetz.
- Ausstiegsprogramme werden als erfolgreich bewertet und erfreuen sich zunehmender Akzeptanz
Seit der Verabschiedung des Gesetzes und bis Juni 2020 haben 395 Prostituierte von einem Ausstiegsprogramm profitiert. So hatten sie Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis für einen Mindestaufenthalt von 6 Monaten, der Zahlung einer monatlichen Finanzhilfe (330€/Monat) und der Begleitung durch eine akkreditierte NGO. Laut Angaben der Präfekte ist dieser niedrige Betrag auf den Mangel an Finanzmitteln für Basis-NGOs zurückzuführen. Bei der Befragung gaben 73% der Präfekte an, dass diese Ausstiegsprogramme erfolgreich seien. Sie betonten, dass Letztere das gegenseitige Wissen aller Beteiligten verbessern und ihre Vernetzung ermöglichen.
In den meisten Fällen ermöglichten Ausstiegsprogramme den Anspruchsberechtigten den Zugang zu einem ersten Job – häufig im Niedriglohnsektor, meist als Reinigungskräfte in der Hotelbranche. In diesem Zusammenhang hebt der Bericht eine von „Amicale du Nid“ im April 2019 durchgeführte Studie hervor, die zeigt, dass zum Zeitpunkt der ersten Maßnahmenverlängerung 47% der von ihnen betreuten Personen, die in einem Ausstiegsprogramm registriert waren, einen Arbeitsplatz hatten.
Der Bericht zeigt ferner auf, dass das Gesetz die Rechte von ProstitutionsaussteigerInnen verbessert hat, obwohl es noch Raum für Verbesserungen in Bezug auf Wohnrechte gibt (oft nicht ausreichend, um die Nachfrage zu befriedigen) sowie auf den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis und den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Beschäftigung. Zudem wurde erneut betont, diese Defizite könnten durch Zuweisung der Mittel an die NGOs vor Ort behoben werden.
- Kampf gegen Zuhälterei und Menschenhandel: Zunahme der Verfahren.
Die Untersuchung hebt hervor, dass die Zahl der in Frankreich in diesen Bereichen durchgeführten Ermittlungsverfahren in vier Jahren um 54% gestiegen ist. Weitere Ergebnisse:
- Die Zahl aufgedeckter Netzwerke erhöhte sich seit der Verabschiedung des Gesetzes von 38 im Jahr 2015 (ein Jahr vor dem Gesetz) auf 69 im Jahr 2018.
- Beschlagnahmungen durch Ermittlungsbehörden nahmen ebenfalls zu: 6 Mio. € im Jahr 2017 und 10 Mio. € im Jahr 2018.
- Zwischen 2015 und 2018 stieg die Zahl der wegen Zuhälterei oder Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung strafrechtlich verfolgten Personen um 66%, nämlich von 667 im Jahr 2015 auf 1109 im Jahr 2018.
- Die Untersuchung stellte eine größere Härte in der Rechtsprechung der Gerichte in Fällen fest, die mit dem Kampf gegen Zuhälterei und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung zusammenhängen.
- Entschädigungen für Opfer von Menschenhandel und Zuhälterei durch den Garantiefonds für Opfer von Terrorakten und anderen Verbrechen (FGTI) haben seit dem Gesetz von 2016 stark zugenommen.
Das Gesetz vom April 2016 eröffnete die Möglichkeit einer staatlichen Entschädigung für Opfer von Zuhälterei, wenn die Täter zahlungsunfähig sind. Dies führte zu einem starken Anstieg an Entschädigungen für Opfer von Menschenhandel (bereits gesetzlich vorgesehen).
Diese Entschädigungen wuchsen innerhalb von 3 Jahren um das Siebenfache.
Entschädigungen für Opfer des Menschenhandels beliefen sich im Jahr 2015 insgesamt auf 107.000 Euro für 6 Opfer. Im Jahr 2016 waren es bereits 220.000 Euro für 5 Opfer von Menschenhandel und Zuhälterei, dann 485.000 Euro für 7 Opfer im Jahr 2017, 766.000 Euro für 17 Opfer im Jahr 2018 und 388.000 Euro für 23 Opfer im ersten Halbjahr 2019.
Insgesamt haben zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 30. Juni 2019 etwa 132 Opfer von Zuhälterei und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung durch diesen Mechanismus eine Entschädigung in Höhe von fast 2 Mio. EUR erhalten.
- Bestrafung des Kaufs sexueller Handlungen: zunehmende, aber ungleich verteilte Zahlen auf dem Territorium
Annähernd 5.000 „Sexkäufer“ der Prostitution wurden seit der Verabschiedung des Gesetzes festgenommen: „Die Zahl der Personen, die an allen von den Gerichten festgestellten Straftaten des Rückgriffs auf Prostitution beteiligt sind, stieg von 799 im Jahr 2016 auf 2.072 im Jahr 2017 und 1.939 im Jahr 2018.“ Der Bericht unterstreicht, dass diese Maßnahme auf dem Territorium ungleichmäßig angewendet wird, da sich 50% der Festnahmen auf Paris konzentrieren. Es scheint, dass es in der Praxis keine Schwierigkeiten gibt, den Akt des Rückgriffs auf Prostitution zu kennzeichnen oder Sexkäufer für dieses Vergehen zu verhaften.
Zur Erinnerung: Nach dem Gesetz wird die Straftat, auf Prostitution zurückzugreifen, mit einer Geldstrafe von 1.500 € und bei wiederholter Straftat mit 3.750 € bestraft. Wenn das Opfer minderjährig oder schutzbedürftig ist (durch Krankheit, Gebrechen, Behinderung oder Schwangerschaft), kann der Sexkäufer mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und einer Geldstrafe von 45.000 € bestraft werden. Bei erschwerenden Umständen werden die Strafen zudem auf fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe von 75.000 € erhöht.
Zusätzliche Sanktionen in Form von Sensibilisierungsprogrammen können Sexkäufern auferlegt werden. Diese Sensibilisierungstrainings, die von akkreditierten NGOs organisiert werden, gelten als effizient und werden generell gut angenommen. Aussagen von Überlebenden der Prostitution gelten als Schwerpunkte dieser Programme. Der Bericht betont, dass diese „Sensibilisierungskurse ihre pädagogische Funktion eines besseren Verständnisses des Gesetzesinhalts erfüllen„, und dass sie auf französischem Territorium stärker und vereinheitlichter entwickelt werden sollten.
ZAHLEN & AUSBLICKE DER 72 PRÄFEKTE, WELCHE DIE FRAGEBÖGEN BEANTWORTET HABEN
- 80% der befragten Präfekte hatten die Kommission „Provinz“/“Landkreis“ zur Bekämpfung der Prostitution, der Anwerbung und des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung eingerichtet, die im Gesetz vom April 2016 vorgesehen ist.
- 84% der Befragten gaben an, bei der Einrichtung der Kommission eine Umfrage zur Prostitution durchgeführt zu haben.
- 90% der befragten Präfekte halten diese Kommission für nützlich (65%) oder sehr nützlich (25%).
- 91% der befragten Präfekte sind der Ansicht, dass die Kommission das gegenseitige Wissen der Akteure, die an der Bekämpfung von Zuhälterei und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und/oder der Begleitung von Personen in der Prostitution beteiligt sind, etwas (54%) oder sehr (37%) verbessert
- 78% der befragten Präfekte meinen, dass die durch das Gesetz von 2016 im Rahmen der Ausstiegsprogramme aus der Prostitution geschaffene verlängerbare vorläufige Aufenthaltserlaubnis für 6 Monate zu kurz oder zu unflexibel
- 93% der befragten Präfekte halten die Höhe von AFIS, der finanziellen Unterstützung für die soziale und berufliche Wiedereingliederung (330 Euro), für unzureichend.
- 73% der befragten Präfekte waren der Ansicht, dass in den Départements die der Delegation für Frauenrechte und Gleichstellung von Frauen und Männern zur Verfügung stehenden Humanressourcen, die für die Umsetzung des Gesetzes bereitgestellt werden, unzureichend
SCHLUSSFOLGERUNG
Diese Evaluierung enthält umfassende und genaue Zahlen zur Umsetzung des abolitionistischen Gesetzes in Frankreich. Es bestätigt, dass das abolitionistische Gesetz bei seiner Anwendung effizient ist. Tatsächlich geht aus dem Bericht hervor, dass dieses ganzheitliche und ehrgeizige Gesetz seit seinem Inkrafttreten einige wesentliche Veränderungen bewirkt hat. Es benötigt jedoch eine stärkere interministerielle Unterstützung und eine massive Aufstockung der finanziellen Mittel, um seine volle Kapazität auszuschöpfen. Der Bericht macht deutlich, dass die Umsetzung eines solchen Gesetzes eine viel stärkere „politische Führung“ durch die Ministerien und ein „proaktives Engagement“ vonseiten der Behörden erfordert. Dementsprechend wurden 28 Empfehlungen ausgearbeitet, die den von abolitionistischen Basis-NGOs in Frankreich seit mehreren Jahren erhobenen Forderungen perfekt entsprechen.
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(2) https://prostcost.files.wordpress.com/2015/05/prostcost-synthc3a8se-ok.pdf