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Sabine Constabel beim Fachtag des Landesfrauenrates Baden-Württemberg 20.10.2020

»PROSTITUTION HEUTE: DAS NORDISCHE MODELL UND GESCHLECHTERDEMOKRATIE«

Als Sozialarbeiterin arbeite ich seit über 30 Jahren in der Beratung und Betreuung von Prostituierten. In dieser Zeit trat das Prostitutionsgesetz in Kraft (2001) und 2017 dann das ProstSchG, das nicht mehr als ein halbherziger gesetzgeberischer Versuch war, die fatalsten Auswirkungen von 2001 wieder einzufangen.

Ich bin eine der Vorstandsfrauen von Sisters. Ein Verein, der sein Programm schon im Titel hat: SISTERS – für den Ausstieg aus der Prostitution.

Wir haben den Verein gegründet, weil wir nicht länger wegsehen wollten. Wegsehen, wie hunderttausende Armutsprostituierte aus Osteuropa und Dritt-Welt-Ländern, oder auch verzweifelte deutsche Frauen, in der Prostitution allein gelassen werden.

Sisters hat seinen Vereinssitz in Stuttgart, arbeitet aber bundesweit.

Und jeden Tag haben wir es mit jungen Frauen zu tun, die fürchterlich unter der Prostitution leiden, die verzweifelt sind, die aussteigen möchten und es einfach nicht schaffen, weil der Bruder dabei ist und aufpasst, oder sie Kinder Zuhause haben, die sie ernähren müssen, oder der Zuhälter sie keinen Moment aus den Augen lässt.

Wir brauchen so dringend gesetzliche Änderungen. Wir brauchen einen Perspektivwechsel, der die Interessen der zigtausende Armuts- und Zwangsprostituierten im Vordergrund stehen hat. Viele Frauen, die auf unserem Prostitutionsmarkt jeden Tag psychisch und physisch zerstört werden. Deren Lebenssituation muss der Ausgangspunkt gesetzgeberischer Handlungen sein, denn sie machen den allergrößten Teil der Prostituierten aus.

Über achtzig Prozent der Frauen in der Prostitution sind Ausländerinnen. Der Anteil der unter 25-jährigen steigt in den letzten Jahren konstant und hat sich im Prostitutionsmarkt als klarer Wettbewerbsvorteil herausgestellt.

Die Frauen in den Bordellen haben zumeist nicht einmal 10% ihres erwirtschafteten Prostitutionserwerbs für sich. Weil der Großteil ihrer Einnahmen direkt zu den Bordellbetreibern fließt und zu Wohnungsbesitzerinnen und Pächtern.

Und diese BetreiberInnen stehen am Ende einer Kette aus unsäglichen Verbrechen an jeder einzelnen Frau. Sie waschen sich die Hände in Unschuld, weil sie sich straffrei und legal die Armut in deren Herkunftsländern zu Nutze machen. Genauso wie die dort herrschenden gewalttätigen Strukturen in den unterprivilegierten Familien, die dort herrschende Benachteiligung der Frau und natürlich die Zuhälterei, die die meisten Frauen in die Bordelle zwingt. Schamlos schlagen sie ihren Profit daraus.

Eine milliardenschwere Prostitutionslobby hat in Deutschland dafür gesorgt, dass in der Öffentlichkeit ein Bild von Prostitution entstanden ist, das mit der Realität nicht das Geringste zu tun hat. So werden Prostituierte als Sexarbeiterinnen“ bezeichnet, ist von „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ die Rede – aber kaum davon, wie die Lebensrealität von Frauen in der Prostitution tatsächlich aussieht.

Als es kürzlich um die miesen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter in der Fleischindustrie ging, war in der öffentlichen Diskussion kein einziges Mal zu hören, dass die Leute da ja freiwillig arbeiten.

„Freiwilligkeit“ ist wohl etwas, das immer dann besonders hochgehalten wird, wenn es sich in Wirklichkeit um Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen handelt.

Die Situation der Prostituierten war noch nie einfach. Immer schon fanden vor allem die Frauen in die Prostitution, die bereits Erfahrungen mit sexueller Gewalt hatten, in der Kindheit oder als Erwachsene. Begriffe wie „freiwillig“ und „selbstbestimmt“ passten noch nie zu dieser Tätigkeit.

In den letzten Jahren aber hat sich die Lage massiv zugespitzt. Heute ist etwa jede dritte Prostituierte unter 21 Jahre alt. Das sind allein in Deutschland über 100.000 sehr junge Frauen! Fast alle kommen aus den ärmsten Regionen Osteuropas, aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Viele wissen nichts über Sexualität. Für so manche ist der Freier der erste Mann. Diese jungen Frauen wissen nichts über Infektionsrisiken, nichts darüber, wie man sich davor und vor pervertierten, gefährlichen Praktiken schützen kann.

Für die Zuhälter und Zuhälterinnen ist es ein Leichtes, sich das Vertrauen dieser unerfahrenen, viel zu jungen und oft emotional verwaisten Mädchen zu erschleichen. Sie greifen sie sich aus Kinderheimen, holen sie aus den ärmsten Dörfern, versprechen ihnen Liebe – und werfen sie dann auf den Prostitutionsmarkt. Loverboymethode heißt diese Form der Anwerbung.

Diese jungen Frauen werden durch die vielen Vergewaltigungen – denn als nichts Anderes empfinden sie ihre Prostitution – innerhalb kürzester Zeit physisch und psychisch zerstört.

Die komplette Legalisierung der Prostitutionsindustrie 2002 hat zu einer steigenden Nachfrage, zur Vergrößerung des Marktes und zur Zunahme des Menschenhandels in Deutschland geführt. Damit ist eines der liberalsten Prostitutionsgesetze der Welt in der Praxis gescheitert. Nicht die soziale und rechtliche Situation der Prostituierten hat sich seit 2001 verbessert, sondern die der Bordellbetreiber und sonstigen Profiteure im System Prostitution.

Doch verloren haben nicht nur die Prostituierten, sondern alle Frauen und Männer. Denn die gesellschaftliche Akzeptanz der Prostitution steht im diametralen Gegensatz zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie zerstört nicht nur die Prostituierten, sondern auch die Freier und deren Beziehungen zu ihren Freundinnen, Ehefrauen und Kolleginnen.

Dabei melden sich zunehmend auch mehr Aussteigerinnen öffentlich zu Wort. Frauen, die lange Zeit in der Prostitution gelebt haben. Sie stellen ihre eigenen, oft sehr schmerzhaften und zerstörerischen biographischen Erfahrungen, dem von der Prostitutionslobby propagierten Bild der „glücklichen Sexarbeiterin“ gegenüber. Diese ehemaligen Prostituierten bezeichnen Prostitution als ein mentales und emotionales Massaker und bringen damit auf den Punkt, was die jungen osteuropäischen Prostituierten ausdrücken wollen, wenn sie mir immer wieder sagen: „Ich ganz kaputt“.

Und Aussteigerinnen berichten, wie sie, als sie noch in der Prostitution lebten, ihre Realität verleugnen mussten. Aus purem Selbstschutz, weil es sonst nicht möglich gewesen wäre, auch nur den nächsten Tag zu überstehen. Auch später, nachdem sie sich befreit hatten, finden die meisten keine Worte, um auszudrücken, wie sie einst in die dunkle Welt der Prostitution abgleiten konnten, auf welche Weise sich mit der Zeit ihr inneres Wertesystem verändert hat, und wie sie den Missbrauch des eigenen Körpers bagatellisieren mussten.

Viele der Frauen kämpfen auch nach der Prostitution mit einer tiefen Verzweiflung und Depression. Denn ein Leben in der Prostitution hinterlässt Wunden. Auch solche, die die Zeit nicht heilt.

Frauen, die sich an Sisters wenden und um Hilfe bitten, kommen aus jeder Sparte der Sexindustrie. Aus Bordellen, von der Straße, aus Clubs oder sog. „Modellwohnungen“. Je nachdem, wo sie am meisten Geld zu verdienen konnten, oder wohin sie ihre Zuhälter geschickt haben.

Die angeblichen Vorteile von Bordellen für Prostituierte sind übrigens eine fade Illusion. Weder haben die Frauen in Bordellen mehr Kontrolle, noch sind sie bei der Indoor-Prostitution in irgendeiner Weise geschützter. Zu oft ist das Gegenteil der Fall, denn in Bordellen sind die Frauen ihren Zuhältern, wie auch den Freiern, in einem sehr viel größeren Ausmaß ausgeliefert als auf der Straße. Die Unterscheidung von der „gefährlichen und entwürdigenden Straßenprostitution“ versus der „selbstbestimmten und geschützten Bordellprostitution“ hat neben den rein kommerziellen auch ideologische Gründe, denn auch sie festigt den Mythos der freien und selbstbestimmten Prostituierten.

Doch letztlich ist es egal, ob die Frauen auf der Straße oder in den Häusern zur Ware gemacht werden. Immer wieder höre ich Sätze wie: „Ich bin hier gestorben“, „Ich werde nie wieder lachen können“ oder „Gib mir normale Arbeit“.

Mitten in unserer Gesellschaft besteht ein Sklavinnenmarkt, der an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten ist.

Deshalb floriert in den Bordellen der Drogenhandel. Viele der Frauen, die nicht an illegale Drogen kommen, versorgen sich mit Psychopharmaka, um ihre Depressionen zu bekämpfen. Und ihren Ekel und ihre Angst vor den Freiern.

Und Armutsprostitution und Zwangsprostitution gehen Hand in Hand. Unabhängig, ob der Bruder dabei ist und die Schwester zum Bordell fährt, oder ob die Frau alleine einreist, nachdem die Familie und der Ehemann es so beschlossen haben, oder ob sie es sogar selbst beschlossen hat, weil die Familie in wirtschaftlicher Not ist. –  Die Frauen antworten uns auf die Frage warum sie hier sind: „ich muss“.

Viele der ausländischen sehr jungen Frauen, die auf dem Prostitutionsmarkt landen, werden in Deutschland zum ersten Mal prostituiert und sind natürlich nicht auf die extremen sexuellen Wünsche ihrer Kunden vorbereitet. Durch die fehlende Sprachkompetenz verstehen sie schon bei der Kontaktaufnahme nicht, welche Praktik der Freier nachfragt, sie selbst können sich auch nicht mitteilen, und müssen deshalb im sexuellen Vollzug erfahren, was mittlerweile in der Prostitution üblich geworden ist: den Freier ohne Kondom oral zu befriedigen, in jede Körperöffnung penetriert zu werden, gewürgt zu werden, als Toilette dienen zu müssen und ähnliches. Diese Frauen berichten von ständiger Todesangst während der Prostitutionsausübung.

Sind die Frauen länger in der Prostitution, berichten sie darüber, dass sie sich an den konkreten Freierkontakt immer häufiger nicht mehr erinnern können. Sie wissen nicht mehr, wie sie zu den blauen Flecken gekommen sind, wissen nicht mehr, ob der Freier das Kondom anbehalten oder während des Verkehrs abgestreift hat, was sie genau getan haben und wozu der Freier sie benutzt hat. Die Frauen dissoziieren.

Die Veränderung der Freierwünsche, hin zu extremen Praktiken, hat in den letzten Jahren stark zugenommen, nimmt weiterhin zu und ist mit eine der Ursachen, warum nur noch so wenige deutsche Frauen in der Prostitution zu finden sind. Professionell arbeitende Frauen lassen derartige Praktiken nicht zum Normalpreis von 30 bis 50 Euro über sich ergehen. Professionelle Frauen achten durchaus auch auf ihre Gesundheit und geben schon deshalb derartigen Freierwünschen nicht nach. Doch die Professionellen, diejenigen, die scheinbar selbstbestimmt und eigenverantwortlich arbeiten, sind längst zu einer kleinen Randgruppe in der Prostitutionsindustrie geworden.

Viele prostituierte Frauen erzählen, dass es den Freiern ziemlich egal ist, ob die Frau einen Zuhälter hat, der sie in die Prostitution zwingt. Oder wie groß der sonstige Zwang ist, der die Frau in die Prostitution getrieben hat.

Auch wenn wir mit Sexkäufern reden und sie fragen, ob sie wissen, ob die Frau das freiwillig macht, dann hören wir Sätze wie „das ist mir egal“, „deren Beziehung geht mich nichts an“, „ich bezahle, also habe ich einen Anspruch auf den Sex.“

Freier verhalten sich genauso, wie sich Bordellbetreiber in der Öffentlichkeit zu dieser Frage äußern – „falls ein Zwang besteht ist das die Privatsache der Frau“.

Seit der Liberalisierung der Prostitution und ihrer Banalisierung durch Sprache hat sich nicht nur der Markt durch die immer größer werdende Nachfrage verändert, sondern auch der Freier selbst.

Die Frauen sagen, „die Freier sind verrückt geworden“.

Sie meinen damit, dass die Freier zu oft kein Maß mehr dafür haben, was Freiwilligkeit und Zwang ist, was einvernehmlicher Sex ist und was nicht. Wo eine Vergewaltigung anfängt, wann sie selbst zum Täter werden, und wo ihre Verantwortung bei all dem liegt.

Mittlerweile haben wir an Wochenenden ganze Gruppen junger Männer, die in Bordelle gehen und da – um mit den Worten der Betreiber zu sprechen – „die Sau rauszulassen“. Während der Sicherheitsdienst in den Bordellen früher alleine durch seine Anwesenheit für Ruhe gesorgt hat, muss der mittlerweile jedes Wochenende eingreifen und gewalttätige Freier aus dem Bordell werfen oder aber die Polizei rufen.

Bei Freiern herrscht eine absolute und erschütternde Gedankenlosigkeit. Die Banalisierung der Prostitution scheint unter ihnen ihre größte Wirkung zu entfalten. Und die Banalisierung beginnt schon bei der Sprache:

Eine Prostituierte ist „Sexarbeiterin“, ein Zuhälter „Manager“, ein Bordellbesitzer „Unternehmer in der Erotikindustrie“, Bordelle nennen sich „Wellnessoasen“ und sogar die besonders menschenverachtende Geschäftsmodelle wie z.B. die Flatratebordelle wurde von dem Sprachrohr der Prostitutionsindustrie dem sogenannten „Berufsverband Sexuelle Dienstleistungen“, mit dem Wunsch nach „Vielfalt von Arbeitsplätzen“ legitimiert.

Auf der anderen Seite werden Begriffe wie „Menschenwürde“, „Moral und Ethik“, zu Unwörtern deklariert, Hilfseinrichtungen, die sich auf Ausstiegshilfen spezialisiert haben, werden von der Prostitutionslobby als „Opfer-Industrie“ diffamiert und die Opfer selbst zu „Opfer-Konstrukten“, weil, so die Prostitutionslobby, „eigentlich gibt es Opfer in der ach so schönen Sexarbeit“ nicht.

Doch Sie wissen es besser:

Prostitution ist menschenverachtend, sie ist ein großes Unrecht, sie ist Gewalt gegen Frauen und produziert Gewalt gegen Frauen. Prostitution ist gelebter Frauenhass.

Und deshalb haben wir keine Wahl: wir müssen dafür kämpfen, dass Männern das Recht entzogen wird, sich Frauen zur sexuellen Benutzung zu kaufen.

Ob wir das dann Nordisches Modell, das deutsche Sexkaufverbot oder sonst wie nennen ist völlig egal.

Klar muss nur eines werden: Frauen sind keine Ware!

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