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Huren im Hause des Herrn? – Sisters Leipzig beim Dialograum „Sexarbeit“ in der Peterskirche

Bereits im März erreichte unsere Ortsgruppe ein Ausschnitt aus den Gemeindenachrichten „TREFFPUNKTE“ der Peterskirche. Darin kündigte Pastorin Dohrn eine für Juni geplante Veranstaltungswoche mit dem Titel „Huren im Hause des Herrn – Dialograum Sexarbeit“ an. Ziel sei es, an die Besetzung der Kirche Saint-Nizier in Lyon im Jahr 1975 zu erinnern – ein Protest von Prostituierten gegen polizeiliche Übergriffe und staatliche Repression.

Auf den ersten Blick schien es sich um ein lobenswertes Anliegen zu handeln: ein Gedenken, das die schwierige Lebensrealität von Menschen in der Prostitution ernst nimmt und sich gegen Ausgrenzung und Zwang stellt. Doch bei näherer Betrachtung sorgte insbesondere die Einleitung der Pastorin für Irritation – vor allem durch die klare ideologische Rahmung des angekündigten „Dialogs“.

In ihrer Ankündigung schrieb Pastorin Dohrn:
„Vor den ersten Gesprächen mit Sexarbeiterinnen dachte ich, dass das sog. Schwedische Modell, das Sexkauf unter Strafe stellt, doch für alle eine gute Lösung wäre. Doch ich habe gelernt, dass mit einem generellen Verbot Sexkauf nicht abgeschafft werden kann, sondern die Sexarbeiterinnen dadurch in die Illegalität gedrängt und jeglichen Schutzes beraubt werden.“
Diese Aussage enthält ein verbreitetes, aber umstrittenes Argument – eines, das unserer Ansicht nach einer kritischen Prüfung nicht standhält. Genau aus diesem Grund hatten wir bereits Anfang März zur öffentlichen Lesung des Buches „An der Seite der Frauen“  von Simon Häggström, einem schwedischen Kriminalkommissar, welcher unter dem Nordischen Modell in Schweden arbeitet, eingeladen. Häggström war persönlich anwesend und stellte sich den Fragen des Publikums. Die Veranstaltung bot eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Nordischen Modell und seiner tatsächlichen Wirkung – weit entfernt von den pauschalen Behauptungen, wie sie in der Ankündigung der Peterskirche zu lesen waren. Eine Einladung zur Lesung, sowie der Hinweis auf das neu erschienene Buch, wurde auch an die Gemeindeleitung übermittelt.
Nachdem uns mehrere Gemeindemitglieder auf die geplante Veranstaltungswoche und die einseitige Darstellung in der Ankündigung aufmerksam gemacht hatten, beschlossen wir, das Gespräch zu suchen. Wir nahmen Kontakt zu Pastorin Dohrn auf, die uns daraufhin freundlicherweise zum Gemeindetag im März einlud – genauer gesagt zu einem Workshop mit dem Titel „Sexarbeit – Menschen hinter einem Tabu“.

Die Einladung nahmen wir sehr gerne an. Der Workshop bot Einblicke in die Lebensrealitäten zweier anwesender Sexarbeiterinnen (sic!). Ihre Erzählungen waren eher persönlicher Natur – Erfahrungen, die wir nicht in Abrede stellen wollen. Allerdings handelte es sich dabei vor allem um individuelle Anekdoten, die – so wertvoll sie im Einzelnen sind – nicht repräsentativ für die große Mehrheit der in Deutschland tätigen Prostituierten sind. Besonders kritisch sahen wir, dass das Nordische Modell erneut verkürzt und irreführend dargestellt wurde – eine Darstellung, die wir im Rahmen der Diskussion sachlich korrigierten.

Trotz wiederholter Hinweise – von Gemeindemitgliedern, von externen Angehörigen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und sogar vom Landesbischof – auf die problematische Einseitigkeit des geplanten Programms, hielt man (vielleicht auch aus organisatorischen Gründen) am geplanten Programm fest. Uns wurde keine aktive Beteiligungsmöglichkeit eingeräumt, obwohl wir als Verein, der in Leipzig konkrete Ausstiegs- und Unterstützungsangebote für Frauen in der Prostitution anbietet, ein wichtiger Akteur in der Stadt sind. Selbst wenn sich am Vortragsprogramm nichts geändert hätte, die Möglichkeit eines Infostandes wäre sicher auch spontan umsetzbar gewesen.
Wir hielten es also ganz nach Bürgerrechtlerin Shirley Chisholm
„Wenn Sie dir keinen Platz am Tisch geben, bring einen Klappstuhl mit.“
Klappstühle gibt es wahrlich genug in der Peterskirche, aber eben weder für uns, noch für Überlebende des Systems Prostitution. Um diese Stimmen dennoch sicht- und hörbar zu machen, erstellten wir sehr kurzfristig mit dem Netzwerk Ella eine Broschüre mit Texten von Frauen aus der Prostitution. Parallel dazu meldeten wir für den 1. Juni, den Auftakt der Veranstaltungswoche, einen Infostand auf dem Gaudigplatz direkt vor der Peterskirche an.
Mit unseren eigenen Klappstühlen und einem großen Schild „Wir sind hier zum Dialog“ waren wir bereit zum Gespräch. Und viele Menschen kamen. Die Resonanz war durchweg positiv – es entstanden wertvolle, ehrliche Gespräche. Einzig ein unerfreulicher Zwischenfall mit einem älteren Herrn trübte kurz die Atmosphäre, doch insgesamt war es ein gelungener Tag der Begegnung.
In den Tagen nach unserem Infostand besuchten wir aus Interesse einige der weiteren Veranstaltungen im Rahmen der Aktionswoche in der Peterskirche. Dabei fiel uns schnell auf: Im Publikum saßen meist die gleichen Personen – uns eingeschlossen. Die Reichweite und Breitenwirkung der Veranstaltungsreihe blieb offenbar überschaubar.
Inhaltlich stießen wir auf teils irritierende Formate. Besonders deutlich wurde das bei der Veranstaltung „Working under the Nordic Model“, die schon im Ankündigungstext durch Aussagen wie „Escaping the Nordic Model’s harm to find safety and solidarity in Berlin“ eine klare Stoßrichtung erkennen ließ. Statt einer fundierten Analyse zur Lage in Kanada – wo das Nordische Modell seit 2014 gilt – hörten wir vor allem persönliche Anekdoten und hypothetische Annahmen. Völlig unerwähnt blieb dabei, dass in Kanada besonders indigene Frauen in der Prostitution ausgebeutet werden – vorwiegend aus sozialer Not heraus. Diese gesellschaftliche Dimension und strukturelle Perspektivlosigkeit hätten unserer Meinung nach jedoch zwingend Teil einer ernsthaften Auseinandersetzung sein müssen.
Doch der für uns befremdlichste Moment kam am letzten Abend der Veranstaltungswoche. Unerwartet drehte sich mehr als eine halbe Stunde lang alles um unseren Verein – konkret um eine Veranstaltung unserer Ortsgruppe im November 2024, die von etwa 70 vermummten, schreienden Personen überfallen wurde. Dieser Überfall wurde von der Vortragenden verharmlosend als „friedlicher Protest“ bezeichnet. Noch verstörender: Eine Frau in der Reihe hinter uns kicherte laut und sagte: „Das war lustig!“

In diesem Moment fragten wir uns unweigerlich erneut: Gilt das oft beschworene Motto „#RedetMitStattÜberUns“ eigentlich nicht auch für uns? Für Aussteigerinnen und Überlebende, für Ehrenamtliche, für Unterstützerinnen eines anderen, kritischeren Blicks auf das System Prostitution?

Etwa eine Woche nach dem Ende der Veranstaltungswoche erhielten wir schließlich doch noch eine Presseanfrage – von der Wochenzeitung Der Sonntag, dem Publikationsorgan der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Unter der Überschrift „In der Kirche über Prostitution reden? Ist der ‚Dialograum Sexarbeit‘ in der Peterskirche gelungen?“ durften wir ein Statement abgeben. Wir freuen uns, unsere Sichtweise auf diesem Weg noch einmal darstellen zu dürfen – und dokumentieren unser vollständiges Statement im Folgenden:
Über „Sexarbeit“ müssen wir unbedingt reden, aber das ist nur ein Bruchteil der Wahrheit. Die Situation derjenigen Prostituierten in prekärer Lage, hauptsächlich (migrantische) Frauen, die nicht durch Veranstaltungen wie diese repräsentiert werden, muss unbedingt in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Sie halten ihren Körper weder für einen Arbeitsplatz noch Prostitution für Empowerment. Wir sollten auch darüber reden, ob die Kirche sich beteiligen sollte, Gewalt an Frauen, welche inhärent in der Prostitution verankert ist, zu einer geschäftlichen Transaktion umzudefinieren und ein aggressives Klima zu erzeugen, in dem prostitutionskritischen Organisationen Hass gegen „Sexarbeitende“ unterstellt wird. Worüber auch gesprochen werden muss, sind die Freier. Sie werden bei Diskussionen oft außen vor gelassen. Ihre Nachfrage erst lässt sexuelle Ausbeutung zum lukrativen Geschäftsmodell in Deutschland werden. Dialograum „Sexarbeit“? Ein Dialograum ohne Dialog – das nennt man Monolog!LINK (Paywall)
Auch wenn man uns dieses Mal keinen Platz am Tisch eingeräumt hat – wir sind trotzdem ins Gespräch gekommen, haben unser Netzwerk weiter ausgebaut und neue Unterstützerinnen gewonnen.
Und fürs nächste Mal wünschen wir uns: weniger Monolog, mehr Dialog – auch mit uns.
Unsere Klappstühle stehen bereit!