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SISTERS Fachtagung am 3. und 4. November in Stuttgart – Tagungsbericht

Eine unserer Mitfrauen hat uns einen sehr persönlichen Bericht zu unserer diesjährigen Mitgliederversamlung, die wir mit einem Aktiventag am 3. und 4. November 2018 verbunden haben, geschrieben. Wir veröffentlichen ihn hier sehr gern:

Ich komme Freitagabend bei Dunkelheit in der Stuttgarter Jugendherberge an. Welch eine tolle Lage, eine Juhe über Stuttgart schwebend!

Bei Nacht wirkt das Lichtermeer ‚Stuttgart‘ betörend schön, selbst die beleuchteten Riesenkräne der Stuttgarter-Bahnhof-Großbaustelle, die tagsüber hässlich und im politischen Sinne großes Ärgernis sind. Es folgt ein wohltuender Abend mit Kennenlernen der aus dem Bundesgebiet angereisten Mitglieder und anregenden Gespräche, die meinen Horizont erweitern.

Am Samstagmorgen beginnt die offizielle Mitgliederversammlung. Ich freue mich in diese professionelle Atmosphäre eintauchen zu können mit der die Vorstandsfrauen Sabine Constabel, Leni Breymaier und Karen Ehlers den Verein repräsentieren.

Nach dem Mittagessen werden wir von der Traumatherapeutin Gaby Breitenbach in die fachlichen Zusammenhänge rund um die Themen ‚Trauma, sexualisierte Gewalt und Dissoziation‘ eingeführt. Sie leitet ein Fortbildungsinstitut zu Traumatisierung, Prostitution, Rituelle Gewalt und Mind-Control. Ihre zahlreichen Publikationen sind empfehlenswert. Als Expertin gelingt es ihr uns die bio-chemischen Hintergründe und biologische Grundprinzipien anschaulich zu erklären, die dem Menschen das Überleben in Gefahrensituationen ermöglichen. Wir vertiefen uns in die Bandbreite der individuellen Bewältigungsstrategien von Traumatas. Wir hören über internationale Studien zu den Folgen von Prostitution. Wir erfahren, dass die schädlichsten Traumatisierungen gerade jene sind, die einem durch andere Menschen zugefügt werden und sich wiederholen. Im Gegensatz hierzu sind einmalige Erfahrungen traumatischer Naturkatastrophen und Unfälle für den menschlichen Organismus anders zu bewältigen. Wir hören alle gebannt zu. Das Grundlagenwissen um traumatherapeutische Zusammenhänge zeigt die Notwendigkeit von Ausstiegshilfen und psychologischen Hilfsangeboten für Prostituierte. Aufgewühlt haben uns die Ausführungen über systematische und rituelle Gewalt, die in einigen Therapien ans Tageslicht kommen. Hier tun sich Zusammenhänge auf, die uns bei SISTERS weiterhin beschäftigen werden.

Es tat gut, dass im Anschluss an die therapeutischen Tiefen wir Solveig Senft mit einem erfrischenden Vortrag über ihr Schulprojekt ‚Menschenrechte, Frauenhandel und Prostitution‘ folgen durften. Gemeinsam mit einer Gemeinschaftskunde-Lehrerin gestaltet die Kunsterzieherin in den 10. Klassen regelmäßig einen Projekttag und vermittelt Wissen über Menschenrechte und Hintergründe zur Prostitution. Sie lässt uns teilhaben an den vielfältigen fachlichen Inputs für die Schüler_innen und der methodischen Vielfalt mit der so ein Mammutunternehmen von ihr gemanagt wird. Ich bekam richtig Lust, bei Solveig Schülerin zu sein, so elektrisiert war ich von ihrem Unterrichtsfeuer. Interessierten Pädagog_innen empfehle ich einfach, sich mit Solveig in Verbindung zu setzen, sie stellt ihr Material gerne anderen zur Verfügung.

Auf einer anderen Ebene ‚bunt‘ wurde es dann, als Justyna Koeke uns teilhaben lies an den unterschiedlichsten Kunstaktionen und Performances mit denen es ihr gelingt, die Öffentlichkeit über die Realität in der Prostitution wachzurütteln. Ihre sinnlich-erotischen Performances unterstreichen ihren sex-positiven Ansatz, wonach es bei Prostitution nicht um Sexualität, sondern um Macht geht und Prostitution Sexualität geradezu kaputt macht. Ich bin begeistert, dass wir bei SISTERS diese künstlerische Kompetenz in unseren eigenen Reihen haben und die Ebenen unserer Öffentlichkeitsarbeit deshalb so vielfältig, kreativ und provokativ ein können.

Der Fachtag ging glücklicherweise zwei Tage und so hatten wir am Sonntag morgen die Chance von Sabine Constabels fundierter sozialpädagogischen Professionalität zu profitieren. Sie führte uns Schritt für Schritt durch die Klippen und Fallstricke eines Ausstiegsprozesses, wie sie ihn seit Jahren hundertfach begleitet. Ihr Credo: „Kontakt zur Aussteigerin ist die große Kunst – alles andere ist Handwerk!“ Sie verdeutlichte uns die unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen, je nachdem ob die Aussteigerin aus Deutschland, Europa, oder außerhalb Europas kommt, ob sie schwanger ist, oder nicht. Sie machte den Städtegruppen, die nicht wie in Stuttgart auf ein eingespieltes Hilfesystem zurückgreifen können, Mut, sich in der Ausstiegshilfe einzubringen. Spontan haben sich zwei Mitglieder bereit erklärt, Sabines Ausführungen zusammenzufassen und den Städtegruppen die schrittweise Abfolge und Verfahrensschritte, die bei einer Ausstiegsbegleitung hilfreich sind, zukommen zu lassen.

Als es Sonntagmittag war, verließ ich erfüllt die Jugendherberge Stuttgart. Nun bei Tage betrachtet, hatte die Stuttgart 21 Baustelle wieder ihre Hässlichkeit und die offensichtliche Verwüstung der Natur war schonungslos sichtbar und nicht durch funkelnde Abendlichter verschönt. Ich selbst war erfüllt, durch die gemeinsame politische Arbeit, durch das neue gemeinsame Wissen, das wir an diesem Wochenende so kompakt zusammengetragen haben.